REVIEWS WORLD 06-2016
Paul Simon - Stranger To Stranger
Concord Records / Universal Music
TIPP
Nach Eric Clapton und Bob Dylan veröffentlicht mit Paul Simon ein weiterer Grande der Populämusik jenseits der 70 ein neues Studio-Album - erst sein zwölftes als Solokünstler. Und er ist stilistisch ungleich mutiger, melodisch nicht vordergründig sondern nachhaltig, textlich engagiert & ironisch. Stranger To Stranger wird bereits flächig mit Simons Meisterwerk Graceland von 1986 verglichen. Tatsächlich fließen auch dreißig Jahre später verschiedene World-Elemente in die Musik des ähnlich Peter Gabriel stets ethnomusikalisch aufgeschlossenen Simon ein. Sparsam, denn alles am Soundkosmos des neuen Albums um Simons immer noch jugendlich wirkende Stimme herum scheint austariert & wohlüberlegt - TrombaDoo, Mbira & die Graceland-ähnlichen Chöre im Opener The Werewolf, bevor sie sich mit Wolfsheulen mischen; Flamenco-Tanzschritte, Conga & Bambus-Marimba; die Handclaps & Percussion in The Riverbank; die verfremdeten Golden Gate Quartet-Samples in Street Angel. Weitere Akzente setzen die Zusammenarbeit mit dem italienischen Electro-Wizzard Clap! Clap! und der Einsatz des mikrotonalen Instrumentariums des US-Klangforschers Harry Partch. Ein Gesamtkunstwerk. |
Live-Termine, b.a.w. nur in Übersee & UK. |
Dellé - Neo / Ziggy Marley
Virgin - Universal
* Tuff Gong - V2 Benelux / H'ART
LIVE-TIPP
Erst nach der vorübergehenden Live-Pause von Seeed findet Frank Allessa Dellé die Zeit für ein Nachfolgealbum zum beachtlichen Solo-Debüt von 2009, Before I Grow Old. Dellé verarbeitet hier die Erfahrungen der letzten sieben Jahre - Touren, Studio, Vaterschaft, Umzüge, Probleme beim Hausbau, mit Freunden. Neo startet mit Teach Me stark, macht es dem Hörer in der Folge zunächst aber nicht ganz so leicht, um nach mehrfachen Hören aber zu wachsen. Beim zweiten Track Tic Toc, der von Seeed stammen könnte, aber Vergänglichkeit thematisiert, ist Gentleman als Gast dabei, Tell Me Who You Are ist eine sich schwer voranschleppende Reggae-Breitseite, Please Apologize ist ein weiterer Höhepunkt, Marry Me Singalong-Material, Light Your Fire ein Appell. Dann geht thematisch weiter, ohne musikalisch mitzuhalten, das melodische Pulver scheint erstmal verschossen. Play Tracks 1,4. Live-Termine, u.a. am 3.7. beim Kölner Summer Jam, sowie am 24.7. bei Das Fest in Karlsruhe. Folgedaten im August (Schweiz). Ab November dann die Road to Neo-Tour. Watch this space... Vom sechsten, schlicht Ziggy Marley betitelten Studio-Album & Nachfolger zu seinem 2014er Grammy-Album Fly Rasta hatten manche vielleicht mehr erwartet. Der Ex-Melody Makers-Leader, Kinderbuchautor, der hier übrigens auch seiner Comic-Figur Marijuanaman einen Song hinterhersendet, veröffentlichte zunächst vorab die ordentliche Single Weekend's Long als Vorbote des nun vorliegenden Sommer-Albums (immer noch nur die Promo-Fassung - keine Beurteilung der Austattung möglich). Weiter auf der Habenseite im Folgenden leidlich dynamische Tracks wie Amen Love Is A Rebel & Butterflies. Mit Programm wie Together, We are the People und We are more liefert der Marley-Clan-Chef aber allzu Bekanntes nach arg geglättetem Strickmuster. Einziger prominenter Gast diesmal wohl nur Bruder Stephen, bei der durchwachsenen Mainstream-Ballade Heaven Can´t Take It. . Play Tracks 4,7,9. |
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Orchestre International du Vetex - Fifavela
Via Lactea / Broken Silence
Marching-Bands mit Pop-, Soul- & Ethnoeinschlag stehen derzeit wieder hoch im Kurs. Die auf Fussball-WM hinfiebernden Mitglieder des Orchestre International du Vetex stammen aus Nordfrankreich, Flandern & Wallonien - Regionen, die ´high hopes´mit der sportlichen Großveranstaltung verbinden, aber auch in sozialer & politischer Hinsicht etwas Zerstreuung vertragen können. Da kommt das blecherne Musik-Programm dieser Straßenfanfare mit über 800 Konzerten in den letzten 12 Jahren auf dem Buckel wohl gerade recht. Mediterranes, Balkan-, Latin-, Afrobeat- und Reggae-Einflüsse gehen in den Instrumental-Sound der Truppe um den franco-italo-polnischen Komponisten Thomas Morzewski ein. |
Benjamin Biolay - Palermo Hollywood / Keren Ann - You´re Gonna Get Love
Barclay * Polydor / beide: Universal Music
TIPPs
Benjamin Biolay untermauert mit Palermo Hollywood seine Ausnahmestellung in der französischen Musiklandschaft. Palermo weist dabei nicht nach Sizilien, sondern ins gleichnamige Künstlerviertel von Buenos Aires. Biolay bringt von seinem Aufenthalt dort keine Tango-Klischees mit, sondern die von Pablo Salzman arrangierten schwelgerischen Streicher des ortsansässigen Orchesters, einen 86er Fußballkommentar-O-Ton, Dancehall-Vocals von Alika aus Uruguay, Cumbia-Swing & spanische Spoken Word Passagen der argentinischen Schauspielerin Sofia Wilhelmi. Der dauermelancholische Biolay scheint kurzzeitig vor der harten Realität des Frankreich von heute in ein träumerisch-künstlerisches Exil abgewandert - wer wollte ihm das verdenken? Sein Palermo Spleen steckt in einem opulent, ja verschwenderisch ausgestatteten Digipak (incl. M/M fold out poster), bei dem sogar die Innenwände bedruckt wurden. www.benjaminbiolay.com 2 Auch wenn sich ihr Album im direkten Vergleich fast minimalistisch ausnimmt (und das, obwohl hier immerhin der legendäre brasilianische Arrangeur Eumir Deodato und das London Metropolitan Orchestra mitwirken) - Keren Ann Zeidel, deren Karriere Biolay einst entscheidend angeschoben hatte, ist nicht erst mit diesem Album aus dessen Schatten getreten. Die in Israel geborene, kosmopolitische Musikerin mit niederländischen Wurzeln hat sich erneut für Englisch beim Gesang entschieden - das mag man bedauern. Das dennoch geschlossen wirkende, in Paris, der gegenwärtigen Basis der Künstlerin, aufgenommene You're Gonna Get Love verarbeitet in Songwriter-Manier Autobiographisches, u.a. Keren Anns Mutterschaft. Play Tracks 1, 4-6 und das wunderbare, abschließende You Have It All To Lose. Live-Termine: Am 4.7. beim Montreux Jazz Festival, am 8. 7. ein einziges Konzert in D: beim Rudolstadt-Festival. |
TIPP & LIVE-TIPP |
Bacao Rhythm & Steel Band - 55
Big Crown / Groove Attack
Hanse-Karibik. Diese Steelpans werden durch Hamburger bearbeitet. Vor den Aufnahmen zum vorliegenden Album verbrachte Multi-Instrumentalist, Bandleader und Mighty Mocambos-Gründer Björn Wagner mehrere Monate in Trinidad & Tobago, erlernte die Spielweise und integrierte die Klangfarbe in seinen bewährten 70´s Retro-Funk-Sound. Die 16 Instrumentals sind Versionen von Originalen ganz unterschiedlicher Künstler - von Faith Evans-, 50 Cent, John Holt oder Dennis Coffey bis hin zu Cat Stevens, die jetzt auf neuen Label von Produzent Leon Michels (Aloe Blacc), The Arcs, etc.) und DJ Akalepse. Klingt durchweg solide, irgendwie fehlt uns allerdings ein wirklich heisses Cover, sei es eine TV- bzw. Kino-Melodie oder ein überraschendes Pop-Tribute... |
Kutiman - 6am / Ana Tijoux - Vengo
Siyal Music / Cargo Records *
Nacional Records
TIPP
Ophir Kutiel aka Kutiman aus Tel Aviv hat nach seinem international vielbeachteten selbstbetitelten Debütalbum von 2007 lange keine Tonträger veröffentlicht. Reisen, Auflegen und sein Youtube-Projekt ThruYOU haben den Mann ausreichend beschäftigt, doch nun folgt der EP Space Cassava auf dem eigenen Label Siyal Music das zweite Album, auf dem der umtriebige Multiinstrumentalist & Produzent wieder diverse Register zieht. Die Vokalparts von Karolina und Adam Scheflan sind in fein kalkulierte Arrangements bis hin zu Bläser- und Streicherkaskaden (Oren Tzor) verpackt, was einige cinematische Momente hervorbringt. Als Song-Bogen voll eklektischer Einflüsse - von Psychedelic Rock, Soul und Spiritual Jazz bis Kraut-Elektronik, ist 6am eine anspruchsvolles Füllhorn der Ideen Kutimans - mit einem Durchlauf von Jaffa Beach bis I Think I Am ist es da nicht getan, bis alles an seinen Platz fällt und der aufmerksame Hörer belohnt wird. In dem aufwendig & plakativ gestalteten Digipak incl. Foldoutposter von Pablo De La Fuente Galvez / Grafika Diablo Rojo steckt Musik einer (laut Rolling Stone) „lateinamerikanischen Lauryn Hill“. Die Chilenin Ana Tijoux ist in ihrer Heimat ein Superstar und mittlerweile auch international erfolgreich - mit einer Mischung aus Pop, Hip Hop und Folk-Versatzstücken wie etwa Quena-Andenflöten - und politischen Texten - der palästinensische Rapper Shadia Mansour ist als Gast dabei. Seitdem der Titelsong ihres Albums 1977 in der TV-Serie Breaking Bad gefeatured wurde, beginnt sich auch ein nicht-spanischsprachiges Publikum für die in Frankreich aufgewachsene Tijoux zu interessieren. Am besten im Konzert begutachten. |
LIVE-TIPP |
M.a.k.u Soundsystem - Mezcla / Flox - Homegrown
Glitterbeat * Echo Beach / beide: Indigo
Mit Mezcla, zu deutsch Mix veröffentlicht das in New York ansässige achtköpfige M.A.K.U. Soundsystem sein drittes Album, das erste auf Glitterbeat. Die acht, meist aus Kolumbien stammenden Musiker an Percussion, E-Bass, Keyboards & Synthies, Gitarre, Posaune, Saxofon, Klarinette und Gesang verquirlen diverse afro-kolumbianische Genre-Spielarten zu einem tanzbaren Ganzen - mit thematischem Text-Bonus. Der hat es durchaus in sich: Flucht unter Lebensgefahr, Immigrationsprobleme, Heimatverlust. Ein - nebenbei bemerkt, ansprechend verpacktes - Album fürs Hier & Jetzt, im Juli live zu begutachten. Live-Termine: 7.7. Rudolstadt, 15.7. Düsseldorf, 17.7. Stuttgart.
Reggae aus dritter Hand. Der franko-englische Nu-Reggae-Artist Florian Gratton aka Flox fusioniert die jamaikanischen Beats mit Electro-Elementen - wenig überraschend, dass er da Fat Freddy’s Drop (LK Johnson & Police) zu seinen Einflüssen zählt. Das vorliegende Digipak-Doppelalbum versammelt auch 14 Tracks aus den bisher von Flox veröffentlichten vier Alben, die das aktuelle Werk Homegrown als Bonus ergänzen. Nix Ganja - der Titel stellt auf die d.i.y.-Haltung des Künstlers ab. Der holt sich etwas Unterstützung für Gitarre, Bass, Schlagzeug und für die Background Vocals und produziert, mixt & mastert die 10 selbstbetexteten Eigenkompositionen anonsten selbst - ´nuff respect. www.flox-music.com/v3 |
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Raging Fyah - Everlasting / Bulby York - Epic & Ting
beide: VP Records - Groove Attack
LIVE-TIPP
Auch schon 10 Jahre gemeinsam aktiv sind Anthony `Tonydrumz´ Watson (dr), Courtland ´Gizmo´ White (g), Demar ´Demz´ Gayle & Andre ´Spider´ Dennis (keys), Delroy ´Pele´ Hamilton (b), Kumar ´Kumz´ Bent (voc). Nach Veröffentlichungen auf dem gleichnamigen bandeigenen Label begeben sich Raging Fyah mit ihrem dritten Studioalbum unter die VP-Fittiche der Chin Family. Die sechs geben sich auf Everlasting weniger kämpferisch als der Name vermuten lässt und laden sich auf ihrem ´feelgood´-Album zweimal Busy Signal als Gaststar ans Mikro. Bald in D auch on stage zu begutachten: http://ragingfyah.com
Bulby York aus Kingston ist ein u.a. bei Chaka Khan, Shabba Ranks, Jimmy Cliff oder Rihanna gefragter Studio Engineer, der sich und der geneigten internationalen Hörerschaft mit Epic & Ting nun ein eigenes Album gönnt. Dass sich York unlängst im Interview mit dem Jamaica Observer mit David Guetta verglich, mag die Alarmglocken schrillen lassen, der Hördurchlauf offenbart aber doch eher das gängige Einsammeln bekannter Vokalisten über ordentlich ausstaffierten Modern Reggae soundbeds - hier nur die bekanntesten: Sizzla für den einleitenden Sermon Psalm 21 (Praises), Maxi Priest, Busy Signal, Beres Hammond & Bounty Killer bis hin zu einem gewohnt sinnfreien Vortrag von Legende Lee 'Scratch' Perry (über Soul Almighty, der einzigen Bob Marley-Komposition). Fettes Namedropping, auch wenn abseits der Vocals & Studio-Tricks melodisch nicht viel geboten ist. |
Harrison Stafford - One Dance / Jahcoustix - Seriously Positive
Soulbeats - Broken Silence * Irievibrations / Groove Attack
LIVE-TIPPS
One Heart, One Destiny, One Dance. Weitere Teachings des Professors aus Pleasonton,CA. Groundation-Frontmann & Aktivist Harrison Stafford hat nicht nur seine Holding On To Jah betitelte Dokumentation zur Geschichte der Rastafari-Bewegung endlich abgeschlossen, sondern für das neue Album statt der US-Mitstreiter im Harry J Studio von Kingston eine jamaikanische Crew mit Leroy “Horsemouth” Wallace (dr), Earl “Flabba Holt” Carter (b), Lloyd "Obeah" Denton & Dalton Brown (g) versammelt. Seine Erkenntnisse zu Babylon & dem Lauf der Welt vermittelt der Prof auf einem soliden, auch melodisch attraktiveren Roots-Soundbed als zuletzt, mit den Vocals weiter stets am Rande der Karrikatur. www.holdingontojah.com * www.harrisonstafford.co Im Rahmen der Europatour u.a. am 1.7. beim Summer Jam, am 8.7. in Wassertruedingen und am 31.7. beim Bersenbrucker Reggaejam, am 29.7. außerdem beim Wiener Afrika Festival. Code Orange: Jahcoustixs neue Wahlheimat Berlin, genauer: die farblich einheitliche Unterführung am derzeit in Renovierung befindlichen ICC (ohne Messebetrieb ein Skater-Refugium) muss für die Fotosession zum neuen Album herhalten. Auch die Studiomusiker kommen aus der Stadt und statten Seriously Positive mit einem angenehmen 70´s Vintage-Sound aus. Mit einem entspannten Ska-Track steigt Jahcoustix ins Album ein und entschleunigt geht es weiter, doch werden inhaltlich ernste Themen nicht ausgespart: Flucht, Meinungsfreiheit, bewaffnete Konflikte. Zwei Gäste schauen am Mikro vorbei: Uwe Banton und Vaughn ´Akae Beka´ Benjamin, drei Dub-Mixe von Co-Songwriter Syrix bilden den Anschluss. Aufgenommen wurde dieses siebte Jahcoustix-Album in Berlin & Wien. Jahcoustix spielt ab 17. Juni den ganzen Sommer über permanent live - auf diversen Festivals. |
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Alborosie - Freedom & Fyah / Dactah Chando - Ansestral
Shengen - VP - Greensleeves / Groove Attack * Achinech Productions
2 Reggae-Acts from Europe (more or less): 1 Zunächst Maestro Alberto d'Ascola aka Alborosie mit Freedom & Fyah. Der vor über 10 Jahren bereits nach Kingston übersiedelte Sizilianer, der sich im Booklet seines aktuellen Albums regelrecht wie von Rembrandt gemalt am Mischpult des eigenen Studios inszeniert, ist bereits ein alter Hase der gobalen Reggae-Szene. In Deutschland durch seine Zusammenarbeit mit Gentleman bekannter geworden, hat er sich diesmal einige Gäste ans Mikro geladen: einmal mehr Ky-Mani Marley, Sandy Smith, Protogje oder Sugus (u.a. Dennis Brown, Gregory Isaacs) - auch Roots Radics & Pupa Avril sind bei einem Track mit von der Partie. Dieser und der Track mit Marleys Sohn gehen am ehesten ins Ohr, der Rest läuft ohne nachhaltigen Eindruck durch. Alle Texte sind im graphisch ansprechend gestalteten Digipak-Booklet abgedruckt. |
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